Es war leicht und schwierig zugleich für mich, über mein eigenes Land zu schreiben …
Lucinda Riley

Lucinda Riley benatwortet Fragen zu Ihrem Roman Die Schattenschwester

In welchem Verhältnis steht die dritte Schwester Star zu ihrer Entsprechung in der Mythologie?

In der griechischen Mythologie ist Asterope die Schwester, über die man am wenigsten weiß. Sie wird überstrahlt von den anderen Sternen der Plejaden, und, wie Star entdeckt, als sie durch Pa Salts Teleskop blickt, besteht Asterope aus zwei schwach leuchtenden, nahe beieinander liegenden Sternen. Darin ist ihre Persönlichkeit begründet: Sie ist eine junge Frau, die im Schatten steht, ein wenig abseits von den anderen, mit einer Seite, die es zu entdecken gilt.

In der Sage wird sie stets von ihrer Schwester Celaeno begleitet, die stärker und lauter ist als sie. Ihre enge Bindung fasziniert mich, weil Star und CeCe als die mittleren der sechs Schwestern zur Koabhängigkeit gezwungen werden und eine ganz eigene Beziehung entwickeln.

In den alten Mythen heißt es, dass Asterope entweder die Gattin oder die Mutter von Oenomaus wurde, dem späteren König von Pisa. Es war gar nicht so leicht, sich in den zahlreichen Widersprüchen der griechischen Sagen zurechtzufinden, aber ich wollte beide Geschichten in die meine integrieren. Mein Oenomaus - Mouse - ist mürrisch und komplex, hat jedoch tiefe Gefühle. Er bemüht sich, seiner Rolle als Vater von Rory und Herrscher von High Weald gerecht zu werden. Star ist für ihn sowohl romantische Partnerin als auch Mutter für Rory ... ihr Schicksal steht tatsächlich in den Sternen (oder in meinem Buch!). Der Moment, als Star den wahren Namen von Mouse erfährt, gehört zu meinen Lieblingsstellen in diesem Roman.

 

Vermutlich sehen Sie Teile von sich selbst in jeder der Schwestern. In welcher Hinsicht haben Sie Ähnlichkeit mit Star?

Eindeutig in meiner Liebe zu Büchern - alle Romane, die Star in der Schattenschwester erwähnt, kenne und liebe ich. Außerdem bin ich in der Öffentlichkeit eher schüchtern und unsicher und habe Angst, vor Publikum zu sprechen. Da ich dazu nun allerdings oft gezwungen bin, musste ich wie Star meine Furcht überwinden, und allmählich wird es besser.

Star hat kaum eine eigene Stimme. Ist es Ihnen schwergefallen, Dialoge für sie zu schreiben?

Anfangs schon. Weil ich den ersten Entwurf meiner Romane diktiere, ergeben sich die Dialoge normalerweise wie von selbst. Bei diesem Buch dauerte es eine Weile, bis ich ein Gefühl für Stars Stimme bekam. Ihr Innenleben war mir klar, doch ihre Interaktionen mit anderen darzustellen fiel mir schwer, da sie ziemlich einsilbig ist. Aber im Lauf der Geschichte kommt sie allmählich aus sich heraus und baut tiefere Verbindungen zu anderen auf. Am Ende war es vollkommen natürlich für mich, aus ihrer Perspektive zu schreiben. Ihre Gedanken sind vielfältig und interessant, und eine ihrer größten Stärken ist ihre Fähigkeit zuzuhören - weswegen gerade die Szenen mit ihr und Rory mir Spaß gemacht haben. Sie verstehen einander auf einer grundlegenden Ebene, auf der es keiner gesprochenen Worte bedarf.

In dem Roman führt Orlando ein Antiquariat. Sie scheinen alte Bücher zu lieben - welche aus Ihrer Sammlung mögen Sie am liebsten und warum?

Orlando als Antiquar darzustellen, hat mir die Möglichkeit verschafft, diese Liebe durch ihn auszuleben. Antiquarische Bücher sind für mich der ultimative Luxus. Wie Star sind sie mir viel lieber als teure Handtaschen oder Schuhe! Jedes Jahr gönne ich mir ein besonderes altes Buch oder ein ganzes Set. Außerdem kaufe ich meinem ältesten Sohn zu Weihnachten und an den Geburtstagen immer ein antiquarisches Buch. Die Lieblinge meiner Sammlung sind meine Penguin-Classics-Bände sowie die in Leder gebundenen Sonderausgaben von Bronte- und Dickensromanen.

Figuren in der Schattenschwester, besonders Mouse, unterhalten sich offen über Depressionen. Finden Sie es wichtig, über die seelische Gesundheit zu sprechen?

Ja, natürlich. Laut Angaben der Weltgesundheitsorganisation WHO leiden gegenwärtig 350 Millionen Menschen aller Altersstufen weltweit unter Depressionen. In Europa leidet einer von 15 Menschen unter klinischen Depressionen, in Deutschland sind es laut Daten der Stiftung Deutsche Depressionshilfe vier Prozent der Bevölkerung. Erst ganz allmählich beginnen wir, ohne Angst vor Stigmatisierung über Depressionen zu reden und sie als Krankheit zu sehen, nicht als etwas, dessen man sich schämen muss. Mouse hat durch den Verlust seiner Frau ein extremes emotionales Trauma erlitten, was Depressionen hervorrufen kann. Am Ende ist er mithilfe von Star und seiner Familie in der Lage, eine Beziehung zu ihr und seinem Sohn aufzubauen und sich von der Vergangenheit zu lösen. Es ist nie zu spät, um Beistand zu bitten, und über das Problem zu sprechen ist der erste Schritt in die richtige Richtung. Das gehört zu den mutigsten Dingen, die man tun kann.

 

Ihre Bücher sind bekannt für ihre exotischen Schauplätze in fernen Ländern - warum haben Sie für diesen Roman England gewählt, und ist Ihnen das Schreiben diesmal leichter als sonst gefallen?

In England gibt es so viele faszinierende Landschaften, die sich stark voneinander unterscheiden; ich habe es genossen, darüber schreiben zu können. Wenn man von einem Berg im Lake District über die wilden, unberührten Täler und Flüsse blickt, kann man kaum glauben, dass sich die quirlige Metropole London in ein und demselben Land befindet. Es war leicht und schwierig zugleich für mich, über mein eigenes Land zu schreiben - leicht in dem Sinn, dass ich in meinem behaglichen Zuhause arbeiten konnte, schwierig insofern, als man einen Ort, den man gut kennt, aus einem frischen Blickwinkel betrachten muss, um den Leserinnen seinen Zauber zu vermitteln. Für mich bedeutet exotisch nicht nur ferne Strände und Palmen, sondern das aufregend Unbekannte - und in England gibt es auch für mich noch sehr viel zu entdecken.

 

In dem Buch beschreiben Sie die wunderbare Landschaft des Lake District und die Gärten von Kent. Welche Region hat Sie beim Verfassen des Romans stärker inspiriert?

Die Gärten von Sissinghurst in Kent, die in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts von der Schriftstellerin Vita Sackville-West und ihrem Ehemann, dem Autor und Diplomaten Harold Nicholson, angelegt wurden, haben etwas Magisches; sie sind in ihrer romantischen Verspieltheit typisch für jene Epoche der englischen Literatur und bildenden Kunst. Diese Gärten wurden als eine Reihe von Räumen geplant, von denen jeder eine andere Geschichte erzählt, weswegen sie für mich das perfekte Vorbild für High Weald waren. Meiner Ansicht nach spiegeln Häuser und Wohnungen das Wesen des Besitzers, und die Beschreibung von High Weald über die Generationen hat mir die Möglichkeit verschafft, meiner Liebe zu Gärten zu huldigen.

Der Ausblick vom Scafell Pike im Lake District ist absolut atemberaubend. Ich erinnere mich lebhaft daran, wie mein Vater mich mit hinaufgenommen hat, als ich sieben oder acht Jahre alt war, und wie Flora und Archie wurden wir am Berghang von einem Sturm überrascht.

Was fasziniert Sie so sehr an der britischen Monarchie?

Großbritannien ist eine geschichtsträchtige Nation mit einer der am weitesten zurückreichenden Monarchien der modernen Zeit. Im neunzehnten Jahrhundert hat das Empire die Welt geformt, und die königliche Familie prägt in den Augen vieler noch immer das Land.

Mich interessiert besonders das sich wandelnde Verhältnis zwischen Öffentlichkeit und königlicher Familie. In der Zeit von König Edward VII. hätten die nationalen Medien es niemals gewagt, Schlüpfriges über den König zu verbreiten, obwohl Bertie mehrere Geliebte hatte und kein Geheimnis daraus machte. Lady Susan Vane-Tempest, eine von ihnen, hat angeblich 1871 ein uneheliches Kind von ihm zur Welt gebracht. Alice Keppel war neben Lillie Langtry seine bekannteste Geliebte. Ihre jüngste Tochter Sonia war die Urgroßmutter von Camilla Parker-Bowles, der Frau von Prinz Charles. Nach allem, was ich über Alice Keppel gelesen habe, bin ich sicher, dass sie sich darüber gefreut hätte, eine ihrer direkten Nachfahrinnen als Ehefrau des Prince of Wales zu sehen.

 

Alice Keppel scheint eine bemerkenswerte Frau gewesen zu sein. Beurteilen Sie sie nach Ihren Recherchen als grundsätzlich positive und wohlmeinende Figur oder eher als manipulativ?

Ich sehe sie nicht schwarz oder weiß. Sie war eine Frau ihrer Zeit, die ihre Begabungen und ihr Charisma nutzte, um sich und ihre Familie voranzubringen. Ich finde es bewundernswert, wie weit sie es als Mädchen aus Schottland, das mit einem Gentleman aus Norfolk verheiratet war, gebracht hat, denn sie galt als so etwas wie die inoffizielle Königin. Sie war eine fröhliche und anregende Gesellschafterin, hatte aber natürlich auch ihre Schwächen. Alice Keppel saß regelmäßig mit Herrschern zu Tisch, war in der Politik aktiv und führte einen der renommiertesten Salons in London. So großer Einfluss lässt sich ohne Manipulationsgeschick nicht erringen.

Ich bin der Überzeugung, dass sie den König auf ihre Art geliebt hat, dass ihre Trauer über seinen Tod jedoch auch eine Trauer über die daraus resultierende Veränderung ihrer eigenen Lebensumstände war. Sie war eine komplexe Persönlichkeit, die die britische Geschichte hinter den Kulissen mitgestaltete, und es war gar nicht so leicht zu beschreiben, wie sie an dem Abend, an dem der König starb, in Ungnade fiel. Die Ereignisse und Mrs Keppels Reaktion darauf sind Augenzeugenberichten von der Nacht, in der der König starb, und vom folgenden Tag entnommen.

Warum ist die Beziehung von Violet Trefusis und Vita Sackville-West Ihrer Meinung nach noch mehr als neunzig Jahre später so bekannt?

Violet und Vita sowie andere Angehörige der Bloomsbury-Gruppe waren mit die Ersten, die sich über Geschlechtergrenzen hinwegsetzten. Sie waren Bohemiens, kreativ und ja, auch privilegiert: Sie stammten aus wohlhabenden Familien und besaßen somit die Freiheit, gesellschaftliche Regeln zu missachten. Ihre Weigerung, sich an diese Normen zu halten, macht sie so interessant. Vita hat eine der größten Schriftstellerinnen der britischen Moderne, nämlich Virginia Woolf, zu ihrem Roman Orlando inspiriert, in dem sie Vita und der Freiheit, für die sie stand, ein Denkmal setzte. Violet und Vita brannten immer wieder miteinander durch, so oft, dass ihre Ehemänner Harold und Dennis ihnen 1920 sogar nach Frankreich folgen und sie überreden mussten, nach Hause zurückzukehren. Ihre Liebe war intensiv, überwältigend und allseits bekannt.

Eine weitere Figur aus der Schattenschwester, die der Realität entstammt, ist die Kinderbuchautorin und Illustratorin Beatrix Potter. Warum, glauben Sie, sind ihre Werke nach wie vor so beliebt - und haben Sie Ihren Kindern ihre Geschichten vorgelesen?

Ich bewundere Beatrix Potter dafür, dass sie folgenden Generationen in Form des National Trust ein Vermächtnis hinterlassen hat, das Flora und Fauna und damit ein Stück englischer Kultur bewahrt. In ihren unschuldigen, einfallsreichen Tiergeschichten fängt sie ein pastorales England ein, nach dem wir uns meiner Ansicht nach in unserer heutigen Zeit sehnen. Ich liebe ihre Bücher und habe sie meinen Kindern vorgelesen; der Kosename meiner Figur Tiggy stammt aus Beatrix Potters The Tale of Mrs Tiggy-Winkle. Ihre Figuren, vor allen Dingen Peter Rabbit, sind zu einem festen Bestandteil der britischen Kindheit und zu Ikonen weltweit geworden.

Beatrix Potter hat als Frau ihre zahlreichen Begabungen genutzt in einer Zeit, als das noch ungewöhnlich war - sie war Schriftstellerin, Illustratorin, gewiefte Geschäftsfrau, Farmerin, Aktivistin, Botanikerin, Ehefrau, Freundin und Umweltschützerin und hat ihr Leben ausgekostet. Es hat mir große Freude gemacht, über sie zu schreiben.

In den ersten beiden Büchern der Reihe konzentrieren Sie sich auf eine Schwester, wogegen in diesem Roman auch CeCe eine wichtige Rolle spielt. Liegt das nur an ihrer besonders engen Beziehung, oder haben Sie vor, auch in den folgenden Bänden mehrere Schwestern einzubeziehen?

In den Sieben Schwestern und der Sturmschwester sowie am Anfang der Schattenschwester treten CeCe und Star als Einheit auf. Stars Geschichte dreht sich um ihre Loslösung von ihrer Schwester. Wie CeCe das empfindet, wird erst in ihrer eigenen Geschichte, der Perlenschwester, enthüllt. Besonders interessant erscheint mir, wie anders Star sich darstellt, sobald man Einblick in ihre Gedanken und Gefühle gewinnt. In der Schattenschwester können wir beobachten, wie die beiden Schwestern sich weiterentwickeln und lernen, unabhängig zu werden. Wie bei allen engen Familienbeziehungen ist das nicht immer leicht.

Möchten Sie uns verraten, woran Sie als Nächstes arbeiten und wohin CeCes Reise die Leserinnen führen wird?

CeCes Geschichte Die Perlenschwester wird uns in die turbulente Historie Australiens sowie nach Südostasien führen. CeCe ist unstet und neugierig, immer auf Achse. Die Trennung von Star bricht ihr anfangs das Herz, gibt ihr jedoch die Chance, sich selbst kennenzulernen und herauszufinden, welche Kunst sie zu schaffen in der Lage ist. Vielleicht öffnet sie sich ja sogar einem Menschen, dem sie erst noch begegnen muss ...

Letzte Frage: Haben Sie in der Schattenschwester eine Lieblingsfigur?

Eigentlich zwei: die Brüder Orlando und Mouse. Orlando würde ich mir als Bruder wünschen und Mouse als Liebhaber …!

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